Im September 2020 fand ein bürointerner Workshop zum Thema „Freiraum und Atmosphäre“ im Alten Zollamt in Hamburg statt. Dieses Thema spielt für MERA eine Rolle, weil das Phänomen der Atmosphäre ein wichtiger Bestandteil der Überlegungen ist, wie Freiräume für Menschen entworfen werden können. Text: Gastbeitrag von Sebastian Feldhusen

Funktionen erfüllt, konstruktive Details durchdacht, ökologische Belange berücksichtigt – und trotzdem wirkt der Freiraum trist. Die Qualität von Parks, Plätzen, Promenaden, Gärten und Höfen misst sich nicht nur an Funktion, Bautechnik und Ökologie, sondern auch an ihrer Wirkung auf den Menschen, oder anders gesagt: an der Atmosphäre des Freiraums. Wir alle kennen diese Qualität aus unserem Alltag: Wenn wir etwa im Herbst durch einen scheinbar menschenleeren Park gehen, dabei stärker als gewöhnlich ein Knirschen unter unseren Sohlen vernehmen und dem gelbrötlichen Laub folgen, das von den Bäumen weht. Der Spaziergang sollte am liebsten nie zu Ende gehen. Oder wenn wir hastig einen Stadtplatz im Sommer queren: Nur aus den Augenwinkeln sehen wir die Menschen, die dicht an dicht an den Tischen vor den Cafés sitzen, dabei vernehmen wir einen kuriosen Mix aus Gesprächen, Folk und Elektro. Wie gerne würden wir hier einfach nur bleiben und dem Treiben folgen.

Seit wann über Atmosphären diskutiert wird

Das Thema Atmosphäre ist für die meisten raumgestaltenden Disziplinen nicht neu – nicht für die Bildhauerei, nicht für die Bühnenbildnerei, aber auch nicht für die Landschaftsarchitektur, die seit mindestens 200 Jahren über Atmosphären diskutiert. Es war der Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld, der im 18. Jahrhundert in Theorie der Gartenkunst (1779–1785) beschrieb, wie Parks uns etwa erfreuen, andächtig stimmen oder staunen lassen können. Was Hirschfeld mit Begriffen wie Wirkung und Charakter erläuterte, wird heute zumeist mit dem Begriff Atmosphäre gefasst. Seitdem ist eine Fülle von Literatur aus unterschiedlichen Richtungen zu diesem Thema erschienen, zum Beispiel aus der Einfühlungsästhetik, Gestalt- und Umweltpsychologie und Phänomenologie, um nur einige wenige zu nennen. Der Diskurs zum Thema Atmosphäre erhielt zuletzt im deutschsprachigen Raum vor 25 Jahren einen Schwung, der zu einem der prägendsten Debattenbeiträge zur Ästhetik der letzten drei Jahrzehnte werden sollte. Die Rede ist von dem Buch mit dem schlichten Obertitel Atmosphäre, das der Philosoph Gernot Böhme 1995 veröffentlichte. In diesem Buch schlug er vor, Atmosphäre als einen Grundbegriff der Ästhetik zu etablieren. In diesen Jahren, Mitte der 1990er-Jahre, veröffentlichten auch Architekten wie Peter Zumthor und Juhani Pallasmaa stark rezipierte Texte, in denen die Bedeutung des Phänomens Atmosphäre für die Architektur herausgestellt wird, auch wenn Pallasmaa den Begriff Atmosphäre nur am Rande erwähnte. Bis heute spielen diese drei Autoren für den Atmosphären-Diskurs auch in der Landschaftsarchitektur eine Rolle, neben den zahlreichen Texten, die verstärkt ab 2010 erschienen sind, darunter zum Beispiel die von dem Geografen Jürgen Hasse oder dem Architekturtheoretiker Achim Hahn. Das Thema Atmosphäre ist wiederum Bestandteil einer umfassenden Wirkungs- oder Wahrnehmungsforschung in architektonischen Disziplinen, die sich besonders im 20. Jahrhundert etablierte; darauf kann im Folgenden nicht genauer eingegangen werden.

Was unter Atmosphären verstanden wird

Auch wenn es wünschenswert wäre: Es gibt kein einheitliches Verständnis von Atmosphären. Trotzdem sind sich Forschende mehr oder weniger darüber einig, dass Atmosphären weder Dinge, noch subjektive Einstellungen sind, sondern Effekte, die auf uns einwirken. Konsens besteht weiter darin, dass wir Atmosphären mit allen Sinnen und nebenbei vernehmen. Übereinstimmung besteht ferner darin, dass wir uns im öffentlichen Freiraum nur schwer Atmosphären entziehen können, häufig geraten wir sogar ungewollt in sie hinein. Einverständnis besteht auch darin, dass wir in der Regel keine Stelle im Raum benennen können, von der allein eine Atmosphäre ausgeht. Vielmehr sind wir von Atmosphären umgeben. Für diesen Gedanken spricht, dass wir Atmosphäre meistens als ganze Situation beschreiben, insofern wir einer anderen Person von ihr berichten möchten. So sprechen wir etwa generalisierend von einer heiteren oder bedrohlichen Atmosphäre, ohne dass wir dabei eindeutig sagen können, welchen Einfluss die einzelnen Teile haben, die zu dem beschriebenen atmosphärischen Effekt beitragen. Soweit zur Einigkeit im Diskurs. Uneinigkeit herrscht etwa zur Frage, wie der Status von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt genau zu verstehen ist. Diese Frage fällt primär in den Bereich geisteswissenschaftlicher Forschung. Mit dieser Frage ist aber auch eine andere verbunden, die unmittelbar für den Diskurs in der Landschaftsarchitektur relevant ist: Können Atmosphären überhaupt so entworfen werden, dass sie von allen Menschen in gleicher Weise wahrgenommen werden?

Wie Atmosphären das Leben beeinflussen

Die Skepsis in obiger Frage gründet auf Erkenntnissen von Forschungen, die darauf hinweisen, dass Atmosphären von Mensch zu Mensch unterschiedlich erlebt werden, dass sie von ihrer Sozialisation, ihren physischen und psychischen Fähigkeiten, dem aktuellen Befinden abhängen, und auch davon, wie wir in einem bestimmten Moment handeln. Trotz dieser Einwände weist etwa der Geograf Rainer Kazig auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen darauf hin, dass es durchaus Atmosphären eines Ortes gibt, die von Menschen, die ähnlich sozialisiert sind, auch in ähnlicher Weise erlebt werden. Dieses trifft für diese Menschen auch für andere Orte zu. Auf solchen Argumenten bauen Entwerfende auf, im besten Fall im Bewusstsein der oben genannten Skepsis. Wie beeinflussen Atmosphären nun unser Leben? Kazig fasst drei Weisen der Beeinflussung zusammen: Erstens können Atmosphären unsere Stimmung prägen und sogar verändern. Zweitens können uns Atmosphären auf etwas aufmerksam machen. Und drittens können Atmosphären unsere Handlungen beeinflussen. Diese drei Weisen machen das Thema Atmosphären für Entwerfende so bedeutend. Wie nun können bestimmte Atmosphären entworfen werden?

© Merve Sehirli Nasir

Was aus dem Diskurs abgeleitet wurde I: Typ, Muster, Grundform

Als Antwort auf diese Fragen sollen hier zwei Ansätze angerissen werden, die in der Architektur- und Landschaftsarchitekturtheorie eine Tradition haben. Der erste Ansatz beginnt mit der Untersuchung von konkreten Orten. Genauer gesagt: Es werden materielle Strukturen und menschliche Handlungen eines Ortes kartiert. Die Leitfrage hierbei lautet: Welche Atmosphäre wird durch die materielle Struktur im Zusammenhang mit der menschlichen Handlung erzeugt? Nachdem eine ganze Reihe von Orten auf diese oder ähnliche Weise aufgenommen wurden, wird auf der materiellen Seite nach immer wiederkehrenden räumlichen Arrangements gesucht, die nach Auffassung der Forschenden bestimmte Atmosphäre zu erzeugen vermögen. Solche wiederkehrenden räumlichen Arrangements heißen dann zum Beispiel „natürlicher Ort” (Christian Norberg-Schulz, Architekturtheoretiker), „halbversteckter Garten” (Christopher Alexander, Architekturtheoretiker) oder allgemein „Innen und Außen” (Rudolf Arnheim, Psychologe). Man muss diesen Ansätzen nicht gleich Essentialismus unterstellen, ihnen also vorhalten, sie schrieben Typen, Muster und Grundformen notwendige und das heißt immer gültige Eigenschaften zu. Vielmehr stützen sich die genannten Ansätze auf die Überzeugung, dass sich bestimmte räumliche Arrangements in der Vergangenheit bewährt haben, um bestimmte Atmosphären zu erzeugen.  

Was aus dem Diskurs abgeleitet wurde II: Bild, Idee, Situation

Der zweite Ansatz geht einen anderen Weg: Im Zentrum steht die imaginäre Vergegenwärtigung einer Atmosphäre, die der Entwerfende selbst erlebt hat. So liest man zum Beispiel bei Peter Zumthor an unterschiedlichen Stellen, dass am Anfang seines Entwerfens ein Bild steht, etwa von einem Garten mit einem bestimmten Geruch, mit Pflanzen und Geräuschen, die durch Kiesel entstehen. Bild meint hier also keine Fläche, sondern eine räumliche Situation, an die sich der Entwerfer zu erinnern versucht und dabei reflektiert, wie diese in einen neuen Entwurf übersetzt werden kann. Dieser Vorgang hat wenig mit Mystik zu tun, auch wenn diese Kritik an solchen Ansätzen immer wieder geäußert wird. Vielmehr geht es bei diesen Ansätzen darum, als entwerfende Person eine bestimmte räumliche Situation zu imaginieren (und tatsächlich mit einem Bild oder mehreren Bildern zu visualisieren) und sich zu befragen, welche baulichen oder inszenatorischen Mittel dazu beigetragen haben, dass diese räumliche Situation entstand. Ein ähnlicher, aktueller Ansatz speziell zum Thema Landschaftsarchitektur findet sich in Texten etwa von Jürgen Weidinger. Bei beiden Ansätzen besteht allerdings die Gefahr, eine räumliche Situation durch die Brille der Expertin oder des Experten unangemessen zu interpretieren.

© Alexis Lozada

Warum es sinnvoll ist, den Diskurs über Atmosphären weiterzuführen

Das Interesse der Landschaftsarchitektur am Thema Atmosphäre hält an. Das belegen immer wieder neue Texte und Konferenzen zu diesem Thema. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Interesse der Landschaftsarchitektur an dem Thema Atmosphäre auch durch Entwicklungen außerhalb des Faches beeinflusst wird, zum Beispiel durch die Bildende Kunst. So spielt bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der zeitgenössischen Bildenden Kunst häufig das Fühlen eine wichtigere Rolle als das Denken (Stichwort: Selbsterfahrung). Außerdem kommen immer mehr Menschen mit Augmented Reality im Alltag in Berührung (Stichwort: Immersion). Hierzu gehört auch, dass es einem Großteil gerade jüngerer Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten fremd ist, Freianlagen als Zeichen in der Tradition semiotischer Konzepte zu denken und zu entwickeln. Dass räumliche Elemente auf etwas verweisen, wird zuweilen sogar als intellektueller Kitsch interpretiert, zum Beispiel wenn, im trivialen Fall, Pflastermuster im Belag auf ein geschichtliches Ereignis verweisen sollen, die nur von Eingeweihten dechiffriert werden können. Ein neuer präsenzorientierter Realismus in der Landschaftsarchitektur? Das Thema Atmosphäre ist also nicht neu, sondern hat eine lange Tradition. Das Phänomen Atmosphäre ist uns allen höchst vertraut, da wir immerzu etwas in einer bestimmen Atmosphäre vernehmen. Aber nur weil ein Thema alt ist oder einem ein Phänomen vertraut erscheint, heißt das nicht, dass das Thema oder das Phänomen damit erledigt ist – insofern Theorie und Praxis der Landschaftsarchitektur daran gelegen ist, bei der Beurteilung und beim Ausloten der Qualität von Landschaftsarchitektur, auch deren Wirkung auf den Menschen ernst zu nehmen.

Sebastian Feldhusen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung der Technischen Universität Berlin. Er ist zudem geschäftsführender Redakteur von Wolkenkuckucksheim, einer internationalen Zeitschrift für Theorie der Architektur.

Titelbild: © Tyler Donaghy