Wahrnehmung, Kritik und Gestaltungsperspektiven von Lebendigkeit in der Landschaftsarchitektur
Ein Beitrag von Nils Krieger, Geschäftsführer und Inhaber der MERA GmbH
Einleitung: Was bedeutet Lebendigkeit aus Sicht der Wahrnehmungsforschung?
„Wir fühlen, dass es verschiedene Grade von Lebendigkeit in Dingen gibt. Wir fühlen, dass uns diese Gefühle gemeinsam sind, dass sie in ähnlicher Weise von allen Menschen geteilt werden. Eine brechende Wellenkrone des Ozeans fühlt sich lebendiger an, als ein industrieller Abwasserteich. Ein prasselndes Lagerfeuer ist lebendiger als die kalte Asche hinterher.“
(Christopher Alexander)
Dieses Zitat macht deutlich, dass der Begriff der Lebendigkeit weit mehr ist als eine poetische Metapher. Er beschreibt eine grundlegende Qualität, die Menschen intuitiv wahrnehmen und die sie miteinander teilen. Ob ein Ort als anziehend, inspirierend und wohltuend erlebt wird, hängt entscheidend davon ab, ob er „lebendig“ wirkt.
Die Wahrnehmungspsychologie hat dieses Empfinden vielfach bestätigt. „Lebendigkeit“ bedeutet, dass ein Raum reichhaltige Reize bietet, die unser Wahrnehmungssystem stimulieren, ohne es zu überfordern. Der Psychologe Daniel Berlyne zeigte, dass Menschen ein mittleres Maß an Komplexität und Vielfalt bevorzugen – zu wenig wirkt monoton, zu viel überfordernd. Rachel und Stephen Kaplan konnten in ihrer Attention Restoration Theory nachweisen, dass lebendig wirkende Umgebungen unsere Aufmerksamkeit erfrischen und unser Wohlbefinden steigern. Der Geograph Yi-Fu Tuan beschrieb mit dem Begriff Topophilia, dass Menschen emotionale Bindungen zu Orten entwickeln, wenn diese sinnlich reich und atmosphärisch erfahrbar sind.
Lebendigkeit ist damit nicht nur ein ästhetisches Ideal, sondern eine psychologisch wirksame Qualität, die für unser Wohlbefinden und unsere Beziehung zu Orten von zentraler Bedeutung ist.

Relevanz für die Landschaftsarchitektur
Für die Landschaftsarchitektur ist dieses Wissen von hoher Bedeutung. Freiräume sind nicht nur funktionale Flächen, sondern prägen, wie Menschen ihre Umwelt erleben. Ob ein Platz einladend wirkt, ob ein Park zum Verweilen anregt oder ob ein Straßenraum Identität stiftet – all dies hängt eng mit dem Faktor Lebendigkeit zusammen.
Die Erfahrung zeigt: Menschen bevorzugen Räume, die Bewegung, Wandel und Vielfalt ausdrücken. Ein Park, in dem Vögel zwitschern, Wasser fließt, Kinder spielen und eine vielfältige Pflanzenwelt vorhanden ist, vermittelt mehr Lebendigkeit als eine statische Fläche mit einheitlicher Bepflanzung und klaren, aber monotonen Formen. Für Planerinnen und Planer ergibt sich daraus eine klare Verantwortung: Freiräume werden besonders dann positiv wahrgenommen, wenn sie nicht nur funktional überzeugen, sondern auch lebendig wirken – wenn sie Resonanzräume für die Sinne und Emotionen schaffen.
Kritische Reflexion: Wird Lebendigkeit in aktuellen Entwürfen berücksichtigt?
Ein Blick in die zeitgenössische Landschaftsarchitektur zeigt ein ambivalentes Bild. Einerseits gibt es viele Projekte, die bewusst mit Lebendigkeit arbeiten. Andererseits lassen sich auch viele Tendenzen beobachten, die Lebendigkeit eher behindern. Minimalistische Gestaltung, übermäßiger Einsatz standardisierter Materialien oder ein Fokus auf geometrische Strenge erzeugen oft sterile Orte. Besonders im städtischen Kontext entstehen Freiräume, die zwar formal „sauber“ wirken, den Nutzerinnen und Nutzern jedoch wenig Anreiz für emotionale Bindung bieten. Nicht selten dominieren pflegeleichte, rein funktionale Lösungen, die zwar ökonomisch sinnvoll erscheinen, aber auf Kosten von Vielfalt und Vitalität gehen.
Gestaltung lebendiger Freiräume: Erkenntnisse und Theorien
Wie können Freiräume so gestaltet werden, dass Menschen sie tatsächlich als lebendig wahrnehmen? Die Forschung liefert hierzu wertvolle Hinweise.
Christopher Alexander und die 15 Lebenseigenschaften
Ein zentraler Bezugspunkt ist der Architekt und Denker Christopher Alexander. In The Nature of Order beschreibt er Eigenschaften, die lebendige Strukturen grundsätzlich auszeichnen.
Alexander hat im Laufe seiner Arbeit Tausende von Systemen aus Natur, Kunst und Architektur untersucht. Dabei versuchte er, das wahrgenommene Maß an Lebendigkeit auf grundlegende Prinzipien zurückzuführen. Wie H. Leitner hervorhebt, kristallisierten sich fünfzehn wiederkehrende Eigenschaften heraus, die in allen lebendigen Strukturen und damit auch in der Architektur und Landschaftsarchitektur zu finden sind. Diese Eigenschaften geben uns ein tieferes Verständnis für den physikalischen und geometrischen Charakter, den lebendige Systeme besitzen.
Eine der zentralen von C. Alexander beschriebenen Eigenschaften ist das Prinzip starker Zentren. Alexander meint damit Orte oder Elemente, die Aufmerksamkeit bündeln, Orientierung geben und die umliegenden Strukturen ordnen. Ein starkes Zentrum entsteht nicht durch Isolation, sondern durch die Wechselwirkung mit seiner Umgebung – es zieht Kraft aus den angrenzenden Räumen und verstärkt diese zugleich.

Ein Beispiel aus der Landschaftsarchitektur: In einem Park kann eine markante Baumgruppe, ein Platz mit Brunnen oder ein kleiner Hügel ein solches Zentrum bilden. Wir Menschen erleben diese Zentren als Fokuspunkt, der dem Raum Gestalt und Lebendigkeit verleiht.

Weitere Forschende und Theorien
- Kevin Lynch zeigte mit The Image of the City, dass Menschen sich in Städten lebendiger fühlen, wenn die Räume eine klare Lesbarkeit aufweisen – also durch markante Wege, Knotenpunkte, Ränder und Landmarken gegliedert sind.
- Gordon Cullen betonte im Werk Townscape, dass die Abfolge von Eindrücken – also das „Serielle Sehen“ – wesentlich für die Wahrnehmung von Lebendigkeit ist. Ein Weg durch eine Stadt oder einen Park, der immer wieder neue Blickbeziehungen eröffnet, bleibt spannend und vital.
- Jay Appleton entwickelte mit der Prospect-Refuge-Theorie ein Modell, das erklärt, warum wir uns in Räumen wohlfühlen, die einerseits Übersicht (Prospect) und andererseits Geborgenheit (Refuge) bieten. Ein lebendiger Freiraum ist also nicht nur offen, sondern bietet auch Rückzugsmöglichkeiten.
- Kaplan & Kaplan betonen, dass Vielfalt und Kohärenz gleichzeitig gegeben sein müssen: Ein Ort wirkt lebendig, wenn er abwechslungsreich ist, aber nicht chaotisch.

Diese Forschungen ergänzen Alexanders Gedanken und zeigen: Lebendigkeit entsteht dort, wo Strukturen Vielfalt, Abwechslung, Identität und emotionale Resonanz ermöglichen.
Praktische Prinzipien für lebendige Freiräume
Aus den genannten Theorien lassen sich konkrete Prinzipien für die Entwurfspraxis ableiten, die wir in unserer Planung berücksichtigen. Nachfolgend ein paar Beispiele:
- Vielfalt und Dynamik integrieren: Unterschiedliche Vegetationsstrukturen, Wasser in Bewegung, wechselnde Lichtverhältnisse und saisonale Veränderungen erhöhen die Lebendigkeit.
- Orte der Begegnung schaffen: Lebendigkeit ist nicht nur eine Frage der Natur, sondern auch der sozialen Dimension. Plätze, die Austausch ermöglichen, wirken lebendiger.
- Skalierung und Maßstab beachten: Große Flächen brauchen Unterteilungen, die unterschiedliche Maßstäbe ansprechen, damit Menschen sich orientieren und identifizieren können.
- Übergänge gestalten: Statt harter Abgrenzungen helfen oft weiche Übergänge, Schwellen und Sequenzen dabei, dass ein Raum als lebendig erlebt wird.
- Sinnliche Qualitäten stärken: Geräusche, Gerüche, haptische Erfahrungen tragen ebenso zur Wahrnehmung bei, wie auch visuelle Eindrücke.
- Offenheit für Wandel zulassen: Ein lebendiger Ort ist nie fertig. Pflanzungen, temporäre Nutzungen oder sich verändernde Wasserstände können Teil des Entwurfskonzepts sein.
Fazit: Lebendigkeit als Leitprinzip
Lebendigkeit ist kein weiches „Extra“, sondern ein zentrales Qualitätsmerkmal guter Freiräume. Psychologische und umweltwissenschaftliche Erkenntnisse zeigen klar, dass Menschen Orte bevorzugen, die reichhaltig, dynamisch und sinnlich ansprechend sind.
In der Landschaftsarchitektur bedeutet dies, dass Entwürfe nicht nur ästhetisch und funktional überzeugen müssen, sondern auch als lebendig erlebbar sein sollten.

Bei MERA nehmen wir dieses Thema sehr ernst. In unseren Entwürfen prüfen wir bewusst, wie Freiräume Resonanz und Lebendigkeit erzeugen können – durch Vielfalt, durch starke räumliche Strukturen, durch Dynamik und durch den Mut, Wandel zuzulassen. Wir sind überzeugt: Nur wenn Freiräume lebendig sind, können sie zu Orten werden, die Menschen gerne aufsuchen, an denen sie sich wohlfühlen und die über Generationen hinweg Bedeutung behalten.
Titelbild: Ort: IGS Hamburg; Foto: Franziska Husung