Ob Menschen Freiräume annehmen oder meiden, das hängt in erster Linie von ihrer Wahrnehmung ab. Für unsere tägliche Arbeit sind die Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung deshalb von großer Bedeutung. Unser Gastreferent Sebastian Feldhusen inspirierte uns mit dem aktuellen Stand der Forschung.
Es ist ein besonderer Moment: Zum ersten Mal spazieren wir durch eine fremde Stadt und stehen plötzlich am Rande eines öffentlichen Platzes. Betreten wir diesen Platz nun oder hält uns vielleicht etwas zurück? Unsere Entscheidung hängt vor allem davon ab, wie wir diesen Ort bewusst oder unbewusst wahrnehmen.
Als Büro für Landschaftsarchitektur sensibilisiert uns die Wahrnehmungsforschung für die Charakteristiken, die Freiräume in den Augen von Menschen zu lebenswerten, attraktiven Orten machen. Mit Sebastian Feldhusen von der Technischen Universität Berlin gewannen wir einen Experten für einen MSB-internen Vortrag zum aktuellen Forschungsstand.
Sebastian wies zuerst auf eine besondere Herausforderung seines Faches hin: Es ist nicht gerade einfach, allgemeine Aussagen über die Wahrnehmung von Freiräumen empirisch zu treffen. Denn wie wir einen Ort sehen und einschätzen, das hängt auch von flüchtigen Faktoren wie Sonne, Regen, Licht und Schatten ab. Oder von individuellen Variablen wie unserer persönlichen Befindlichkeit.
Der Rand des Platzes als Erfolgsfaktor
Dennoch gibt eine Vielzahl von Gutachten zu konkreten Orten mittlerweile Aufschluss über immer wiederkehrende Probleme öffentlicher Räume. Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für Modelle und Strategien, die für jeden Ort individuell angepasst werden können.
Bereits in den 1970er Jahren entwickelte der Architekt und Architekturtheoretiker Christopher Wolfgang John Alexander eine Mustersprache, die konkrete Gestaltungsansätze und Handlungsempfehlungen für Städtebau wie für Architektur und Landschaftsarchitektur liefert.
Eine vermeintlich schlichte Erkenntnis fällt dabei besonders auf: Beispielsweise beleben sich öffentliche Plätze ganz natürlich vom Rand aus. Wie dieser Rand ausgebildet ist, entscheidet also darüber mit, ob sich Menschen einen Platz aneignen oder nicht.
Wir alle kennen Stadtplätze, bei denen diese Erkenntnis nicht berücksichtigt wurde. Die Folge: Kaum jemand verweilt an diesen Orten. Umgekehrt gibt es belebte Stadtplätze wie die weltberühmte Piazza del Campo in Siena, eingebettet zwischen prachtvollen mittelalterlichen Häuserzeilen. Hier zieht es Einheimische wie Touristen geradezu magnetisch auf die Piazza.
Wahrnehmung unterscheidet nicht zwischen Disziplinen
Die unterschiedliche Anziehungskraft von Plätzen weist auf ein Dilemma der Landschaftsarchitektur hin: Für das Wohlbefinden der Menschen sind vor allem Faktoren außerhalb unserer Disziplin relevant. Wenn etwa die Proportionen und vorgesehenen Nutzungen der Gebäude an einem Platz falsch gewählt sind, lässt sich das Problem durch freiraumplanerische Lösungen allein nicht mehr oder nur in Ausnahmefällen in den Griff bekommen.
Bei MERA schauen wir deshalb grundsätzlich immer über den Tellerrand unserer Profession hinaus. Indem wir etwa prüfen, welche zusätzlichen architektonischen oder städtebaulichen Maßnahmen zur Belebung eines Ortes beitragen können.
Die Ergebnisse der Wahrnehmungsforschung sind für unseren ganzheitlichen Ansatz von zentraler Bedeutung. Nicht zuletzt, weil sie selbst keine disziplinären Grenzen zwischen Städtebau, Architektur und Landschaftsarchitektur kennt.
Sebastian Feldhusen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung der Technischen Universität Berlin. Er ist zudem geschäftsführender Redakteur von Wolkenkuckucksheim, einer internationalen Zeitschrift für Theorie der Architektur.
Titelbild: © MERA